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Der Tropfen

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Der Tropfen

Geboren unter einem Vorhang aus Haaren beginnt seine Reise.
Anders als bei seinen Geschwistern, die am Gipfel geboren wurden, sind ihm Weg und Richtung bereits teilweise vorbestimmt.
Die Schwerkraft erfasst ihn wie ein ahnungsvolles Sehnen und flüstert ihm von den Orten zu, die es zu erkunden gilt.
Und so rutscht und gleitet er hinab und fort.
Hinab, hinab, zwischen sorgfältig gestutzten Brauen hindurch.
Die Nasenwurzel ist sein erster Scheideweg.
Weiter geradeaus, wo früh der Sprung ins Ungewisse ihn lockt?
Sein Weg führt ihn jedoch andere Pfade hinab und so fließt er sanft am Auge dahin.
Auf der Wange begrüßen ihn Verwandte, die teils hektisch an ihm vorbei eilen – es sind Tränen auf dem Weg nach Unten.
Auf Höhe der Lippen gelangt er an ein Muttermal, an dem er sich kurz zur Besinnung aufhält.
Auch hier trifft er ferne Cousins, die es jedoch in ihrem engen Familienverband lieben – sie sind ein Gemisch mehrerer Quellen und erzählen sich und anderen von vergangenen Erlebnissen.
Er lässt jedoch Speichel und Mund hinter sich, um die Talfahrt des Halses zu erleben
Einige seiner Geschwister nehmen den steileren Weg hinab, malen den Kiefer nach und hoffen auf das schnelle Glück im freien Fall vom Kinn.
Während sein Weg ihn über bebenden Untergrund führt, unter dem mysteriöse Kräfte schieben und walten.
Ein kurzer Halt auf dem Schlüsselbein lässt ihn zittern – weiter nach unten, den Sims entlang oder doch innehalten?
Ein Atemzug bringt Erschütterungen, die ihn über den Rand tragen und seinem Weg neuen Schwung verleihen.
Fast stürzt er die blasse, heiße Haut hinunter, bald begegnet er seinen Geschwistern wieder und auch einige Tränen grüßen ihn, manche im freien Fall an ihm vorbei, doch viele mehr ebenfalls im Fluss neben und um ihn her.
Er gleitet fast schwerelos eine Wölbung hinab und umrundet ohne Verzögerung die Brustwarze, wonach ihn die Schwerkraft lockt, sich fallen zu lassen.
Bald muss er sich entscheiden, zu fallen oder festzuhalten an seinem Weg, wie er so über der Tiefe unter der Brust hängt und um sich her Geschwister und Tränen sieht, die sich teils in den Abgrund stürzen, teils auf der Haut weiterreisen - doch ein weiterer Atemzug gibt ihm Schwung genug, um unter die Brust zu rutschen und auf den Rippen zum ruhigen Dahingleiten zu kommen.
Die Haut über den Rippen und dem weichen Bauch gibt ihm Zeit, seinen weiteren Weg zu sehen und sich zu orientieren.
So viele Verlockungen und Möglichkeiten hat er nun ruhig entschieden, ist an seinen Geschwistern gewachsen und bekam von ihnen weiteren Schwung
Nun auf dem Weg am Bauchnabel vorbei und auf dem Scheideweg am Übergang zum Oberschenkel entscheidet er sich, seinen geraden Abstieg zu unterbrechen.
Er wählt die Abzweigung in Richtung Schritt, statt sich weiter über den Oberschenkel tragen zu lassen und schließlich sanft anzukommen.
So gleitet er weiter über heißer werdende Haut, spürt das Pulsieren unter sich und begibt sich auf feuchter werdendes Gebiet.
Die Gegend ist ihm fremd, so anders und doch so vertraut – es ist dieselbe Haut wie sein Geburtsort, doch wundersam anders und bewohnt von engen Verwandten und gänzlich unbekannter Feuchtigkeit.
Er verweilt hier lange, erkundet vorsichtig und geruhsam seine Umgebung und vermählt sich schließlich mit einem Tropfen der fremden Herkunft.
Gemeinsam erlangen sie neuen Schwung, spielen und schweben an Haaren herunter, bis sie endlich über einem weiteren Abgrund zum Halten kommen.
Sie umarmen sich zitternd, hören den Lockruf der Tiefe und wie ihnen die Schwerkraft verheißungsvoll zuflüstert.
Schließlich lassen sie in Übereinkunft los und stürzen in die Tiefe, gemeinsam und eins, wo einer allein keinen Mut gehabt hatte, dem Ungewissen entgegen und an all denen vorbei, die sich für den langsamen und sicheren Weg entschieden hatten.

Die gemeinsame Euphorie des Loslassens ist jeden langen Weg wert.
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